„Nach der Krise ist vor der Krise“

Montag, 26.10.2020
Seit Jahrzehnten ist Hanspeter Vikoler aus Gufidaun in Gebieten unterwegs, in denen Konflikte, Naturkatastrophen und weitere Notstandssituationen Hilfseinsätze notwendig machen. Der Südstern ist Einsatzkoordinator des Welternährungsprogramms (WFP) der UN. „Corona hat den Hunger in der Welt dramatisch vergrößert”, sagt er.

 

Hanspeter, du bist seit mittlerweile 30 Jahren für die UN im Einsatz. Wie würdest du deinen Beruf beschreiben?

Ich komme immer dann ins Spiel, wenn wir von einer Krise in einem Land oder einer Region reden. Früher entwickelte sich ein Notstand oft, weil es im Land einen Konflikt gab, der zu Vertreibung und Flüchtlingsströmen führte. In den vergangenen Jahren hingegen wurden zunehmend Naturkatastrophen Auslöser für unseren Einsatz. Meine Aufgabe ist, Einsätze für meine Organisation zu koordinieren und dabei mit der lokalen Regierung, anderen Partnerorganisationen und lokalen Gemeinschaften zusammenzuarbeiten. Das heißt, einen Einsatz über eine lokale Bestandsaufnahme, Organisation von Hilfslieferketten und Verteilungssysteme auf die Beine stellen und dann dementsprechend abzuwickeln und zu überwachen. Natürlich helfen wir dann auch beim Wiederaufbau und unterstützen dabei, die Kapazitäten zur Selbstversorgung der Menschen vor Ort zu stärken, dass sie widerstandsfähiger und unabhängiger für zukünftige Notstände werden. Im Fokus steht aber immer das Thema Ernährung in Krisensituationen oder mit anderen Worten: Menschenleben vor Hunger zu retten. 

 

Inwieweit spielen Konflikte da hinein?

Die Verbindung von Hunger und bewaffneten Konflikten ist ein dauernder Teufelskreis, denn Krieg und Konflikt führen immer zu schlimmer Hungersnot. Auch Engpässe, wie jetzt in der Covid-19-Situation führen zu einem Hungernotand und zu latenten politischen Spannungen, gesellschaftlichen Unruhen und schließlich wiederum zu Konflikten  Die derzeit am schlimmsten von Hungersnöten betroffenen Länder sind die langandauernden Kriegsländer Südsudan, Yemen, Burkina Faso, Kongo und Nigeria. Unser Ziel einer globalen Ausrottung des Hungers in der Welt („Zero Hunger“) als Teil der nachhaltigen Entwicklungsziele der UN bis 2030 kann wahrscheinlich niemals erreicht werden, wenn wir nicht Kriege und Konflikte beenden können. Derzeit leben 60 Prozent der fast 700 Million hungernden oder chronisch unterernährten Menschen in von Konflikten betroffenen Ländern.

 

Das Welternährungsprogramm ist gerade mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet worden. Eine schöne Anerkennung für die Arbeit und dennoch: Warum gelingt es nicht, den Hunger in der Welt langfristig einzudämmen?

Vor der Pandemie haben wir uns um rund 85 Millionen Bedürftige gekümmert, jetzt ist diese Zahl auf inzwischen 135 gestiegen und wird schon bald auf 270 Millionen Bedürftige geschätzt. Die meisten leben in den krisenbetroffenen Regionen Afrikas, aber nicht nur. Oft ist es in den letzten Jahrzehnten gelungen, bestimmten Krisenherden aus der Bedürftigkeit zu helfen. Man hätte erwartet, dass es keine Unterstützungsprogramme gegen Hunger mehr braucht, aber dem ist leider nicht so, denn oft schlittern dieselben Regionen wie etwa der Sahel, Horn of Africa, Kongo und Naher Ostern nach Jahren erneut wieder in vertiefte Konflikte und ernste Folgen von Naturkatastrophen. In vielen Gegenden hingegen ist es besser und stabiler geworden, wie in Angola, Kenia, Tansania und den westafrikanischen Küstenländern. Diese Entwicklungen hängen immer stark von der politischen Führung vor Ort und den globalen Einflüssen und Interessen ab. Bodenschätze sind nur ein Beispiel. Das klingt immer ganz weit weg, aber in der inzwischen globalen Welt ist alles verbunden und der Hunger in der Welt hat auch viel mit unserer ethisch-zivilen Position und unserem Konsumverhalten zu tun.

 

Was könnte ein Ansatz in die richtige Richtung sein?

Einmal müsste die Bevölkerung objektiv und kritisch über die Medien informiert werden, dann bräuchte es eine verantwortungsvolle Wahl der lokalen, nationalen und internationalen Volksvertreter in die verantwortlichen Regierungsstellen und letztlich ein vernünftiges und gerechtes Konsumverhalten jedes Einzelnen – das alles zusammen könnte einen großen unmittelbaren und langfristig nachhaltigen Unterschied machen.

Du bist in Rom stationiert und hast zuletzt in Mosambik als Covid-19-Response-Koordinator daran gearbeitet, den totalen Zusammenbruch der Wirtschaft im Land zu verhindern. Wie konnte es so weit kommen?

Im Norden Mosambiks breitet sich eine islamistisch orientierte Guerilla immer weiter aus und hat bereits zu Hunderttausenden Flüchtlingen geführt. Es wird für uns dort immer schwieriger, Hilfslieferungen zu verteilen. Deshalb haben wir daran gearbeitet, wie wir den Zugang zu den betroffenen Gebieten und auch landesweit gerade in der ersten Phase der Pandemie die Hilfsmittelverteilung und das Sozialversicherungsnetz im Land sichern können und Zugang zu den betroffensten und bedürftigsten Menschen bekommen. Es gab zwar verhältnismäßig wenige bestätigte Covid-Erkrankte im Land, aber die wirtschaftlichen Auswirkungen der verhängten Restriktionen bedrohten im Vergleich zu den gesundheitlichen Auswirkungen viel mehr und inzwischen bereits schon Hunderttausende Existenzen. Und es werden immer mehr.  

 

Wenn wir von Covid-19 sprechen ist Afrika oft nur eine Notiz am Rande. Was sind die Auswirkungen der Pandemie im Kontinent?

Es wird bestimmt wegen unausreichender Kapazität weniger getestet und die bestätigten Fälle sind verhältnismäßig weniger. Im Grunde weiß man nicht so viel. Das wird auch daran liegen, dass die lokalen Gesundheitsbehörden überfordert sind und dass die Menschen auch andere, vorrangigere Versorgungs- und Überlebenssorgen haben. Eine halbe Million Menschen sterben in Afrika immerhin jedes Jahr an den üblichen chronischen Krankheiten. Die wirtschaftlichen Folgen der Krise sind fatal und werden sich noch weiter verschlimmern und ausbreiten. Viele afrikanische Länder haben nach dem Modell des Westens sehr restriktive Maßnahmen ergriffen, ohne zu bedenken, dass ein Großteil deren Bevölkerung ohnehin schon unter dem Armutsstandard leben muss, während Europäer vielfach ein größeres Polster haben und auch mit Hilfe der Sozialsysteme eine Weile gut über die Runden kommen. Die Menschen in Afrika leben vielfach von der Hand in den Mund, wenn sie nicht arbeiten können, haben sie schlichtweg nichts zu essen. Die Krise ist eine globale, es wurden die Lieferketten unterbrochen, somit wirkt sich das auch in Afrika aus. Und dann leidet die lokale Produktion ja ohnehin schon unter den vorherrschenden internationalen Handelsabkommen. Und damit sind wir wieder bei unserem persönlichen Einfluss auf den Hunger in der Welt...

 

Du warst im Laufe der Jahrzehnte in vielen Ländern der Welt im Einsatz, unter anderem im Nahen Osten oder früheren Jugoslawien. Die meiste Zeit hast du aber in Afrika verbracht. Was bedeutet dir das Land?

Sehr viel, ich fühle mich dort inzwischen überall schon recht wohl. In Angola habe ich meine Ex-Frau kennengelernt, mit der ich zwei Söhne habe, Wandy und Felix. Der Kontinent hat insgesamt 54 Länder und in 50 davon war ich schon. Es ist eine andere Dimension dort, die man selbst auf diese unvergleichliche Weise über humanitäre Einsätze erleben muss. Ich erlebe in Afrika eine Bodenständigkeit, die noch echt und natürlich ist, eine besondere Atmosphäre eben, auch wenn sich über die letzten 30 Jahre viel geändert hat und sich der allgemeinen globalen Nivellierung angepasst hat. Das so genannte ‚mal d’Africa‘, das haben ja schon viele versucht zu beschreiben. Afrika hat enorme Ressourcen und ein riesiges Potential sich zu entwickeln und mit mehr Selbstbestimmung weltweit an vorderster Front zu stehen. Für mich ist das Land ein zweites Zuhause geworden. 

 

Gerade jetzt im weltweiten Lockdown hast du viel Zeit in deinem Zuhause in Südtirol verbracht. Ist das seltsam, wenn man so viel Armut erlebt und dann in dieses wohlhabende Land kommt?

Ehrlich? Ich bin froh, immer wieder hierher zurückkommen zu können um diese einzigartig wunderschöne Heimat voll zu genießen, wobei ich mein in Krisenländern Erlebtes einfach zurücklasse und meine heimische Umgebung geniesse. Ich weiß gar nicht, ob es immer hilfreich ist, das ganze Elend der Welt mitzubekommen, ohne dabei wirklich etwas Hilfreiches beitragen zu können. Was aber nicht schaden könnte: Sich des Glücks auch bewusst zu sein. 

 

Was kommt jetzt?

In Rom arbeite ich zurzeit daran, ein Frühwarnsystem zu erarbeiten und in Krisenprävention und -bewältigung zu investieren. Das soll uns einerseits ein schnelleres Eingreifen ermöglichen und auch vor allem nationalen Regierungen und Institutionen helfen, Krisen besser vorauszusehen und selbst zu bewältigen. Denn die letzten Jahre haben mir gezeigt: Nach der Krise ist vor der Krise. 

 

Info: 

Das Welternährungsprogramm (WFP) der Vereinten Nationen wird vollständig über Beiträge von Geberländern finanziert. 2019 wurden Hilfsmittel für rund 100 Millionen Menschen in über 80 Ländern und mit einem riesigen Netzwerk von Partnern verteilt. Für die geplanten Einsätze der nächsten sechs Monate werden rund fünf Milliarden Dollar benötigt. Gerade wurde das WFP mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Mit dem Preisgeld von rund einer Million Dollar kann das Programm vier Millionen Schulkindern in seinem weltweiten Schulausspeisungsprogramm einmal eine Mahlzeit verabreichen. 

Tags

Interview
Auslandserfahrung
Coronakrise
Welternährungsprogramm

Ähnliche Beiträge: