„Alle über einen Kamm scheren bleibt nicht ohne Folgen”

Montag, 04.10.2021
Sie ist Wissenschaftlerin am Institut für Allgemeinmedizin und Lehrbeauftragte an der Freien Universität Bozen und beschäftigt sich mit degenerativen Erkrankungen, Patientenversorgung und Einflüssen der Umwelt auf die Gesundheit. Beim Südstern Health & Science Forum wird Barbara Plagg über die biopsychosozialen Auswirkungen des Lockdowns auf ältere Menschen, Kinder und Jugendliche sprechen. Wir haben sie vorab zum Interview getroffen.

 

Als Giuseppe Conte in Italien im März 2020 alles schließen ließ, was nicht lebensnotwendig war, sagte er unter anderem diesen Satz: „Wir sitzen alle im selben Boot.” 

Was Gesundheit oder gesamtgesellschaftliche Präventivmaßnahmen angeht, sitzen wir nie im selben Boot, denn die Lebensrealitäten, Voraussetzungen und Rahmenbedingungen der Menschen innerhalb einer Gesellschaft sind sehr unterschiedlich – und das wusste man genau genommen schon damals. Auch ohne Corona sitzen wir bekanntlich, was Lebensqualität, Lebenserwartung und die „Verteilung" von Gesundheit angeht, nicht im selben Boot: Deswegen werden pauschale Maßnahmen ohne zielgruppenorientierte Interventionen in der Sozial- und Präventivmedizin grundsätzlich als problematisch begriffen. Wenn alle über einen Kamm geschoren werden, trifft es einige immer härter als die anderen.

 

Du hast dich viel mit den Auswirkungen der Pandemie auf ältere Menschen, Kinder und Jugendliche beschäftigt. Weil sie zu jenen gehören, die es härter trifft?

Ja. Es war von Anfang an klar, dass sie am meisten unter der Pandemie zu leiden haben werden. Schauen wir uns zuerst ältere Menschen an. Sie sind einerseits besonders vulnerabel für eine Sars-CoV-2-Infektion mit schwerwiegendem Verlauf, andererseits ist gerade auch für diese Zielgruppe eine andauernde Isolation mit wenig bis kaum motorischen und kognitiven Stimuli ein Risikofaktor für zahlreiche Erkrankungen, Verschlechterung bestehender Pathologien und vorzeitigem Tod. In diesem Spannungsfeld zwischen Schutz auf der einen und Kollateralschäden auf der anderen Seite, haben wir eine Erhebung zu den Seniorenwohnheimen gemacht. 

Mit welchem Ergebnis?

Seniorenwohnheime stellen eine von der Pandemie besonders stark betroffene Lebensrealität dar und sind in ihrem Alltagsgeschehen bis dato davon stark beeinflusst. Wir haben in den unterschiedlichen Heimen ein heterogenes Bild vorgefunden, wie die Maßnahmen umgesetzt wurden. Was sich allerdings durchgehend klar gezeigt hat, war die Auflösung und Entkopplung bislang geltender Pflegegrundsätze: Was bisher als wichtig galt, etwa Menschen körperlich zu aktivieren, soziale Interaktion zu pflegen, niemanden vereinsamen zu lassen, wurde plötzlich zu einer potenziellen Gefahrenquelle. Die Verhandlung (medizin)ethischer Grundsätze, wie z.B. Personen in ihren Zimmer einzusperren oder Kinder zu den sterbenden Eltern nicht durchzulassen, und die Umsetzung der Präventivmaßnahmen hat als Gratwanderung zu Konflikten geführt, deren Verhandlung bis heute andauert und ein Prozess ist. Zu welchen Coping-Strategien dies bei Pflege- und ärztlichem Personal geführt hat und wie es den Angehörigen und den Heimbewohnerinnen erging, werde ich beim Health & Science Forum vorstellen.

 

Was sind die psychosozialen Folgen für Kinder und Jugendliche?

Bei ihnen führt die Reduktion der sozialen Interaktion und die über Monate geschlossenen Bildungseinrichtungen zu Konsequenzen in der Gesunderhaltung — auch das war genau genommen schon bekannt. Innerhalb dieser Gruppe gibt es wiederum besonders vulnerable Zielgruppen: Kinder mit Förderbedarf, Kinder mit chronischen Erkrankungen, Kinder in schwierigen Familiensituationen etc. Eine Vorerhebung von uns in der Woche des Lockdowns Ende Februar 2021 hat gezeigt: Die psychische Belastung der arbeitenden Familien innerhalb unserer Kohorte stieg enorm an, sie betrug im Lockdown 63% im Vergleich zu den 3% in der Prä-Corona-Zeit. Um Arbeit und Kindererziehung bzw. Homeschooling unter einen Hut zu bringen, wurden unterschiedliche gesundheitsschädliche Strategien angewandt, die im Sinne des Infektionsschutzes und der Minimierung von Kollateralschäden maximal eine Notlösung, aber keine dauerhafte Lösung sein können. 

 

Welche waren das? 

Kinder wurden trotz geltender Verbote zu den Ende Februar 2021 noch ungeimpften Großeltern oder anderen Personen außerhalb der Kernfamilie gegeben, die Eltern versuchten sich mit Schichtarbeit, Früh- und Abendarbeit zu behelfen und ein Viertel ließ in unserer Kohorte die Kinder unbeaufsichtigt. Im Moment werten wir eine weiterführende Umfrage aus, die wir in Kooperation mit dem Schulamt durchgeführt haben. Meine Kollegin und Studienleiterin dieser zweiten Erhebung, Dr. Verena Barbieri wird bei der Veranstaltung einige Ergebnisse dazu präsentieren.

 

Ein Thema, mit dem du dich beschäftigst, ist die Herausforderung der Patientenversorgung. Inwieweit hat sich diese in den vergangenen Monaten entwickelt? 

Die Versorgungsforschung ist das Steckenpferd des Instituts für Allgemeinmedizin, dessen Teil ich sein darf. Zu den Auswirkungen der Pandemie auf unterschiedliche Versorgungspfade und -szenarien hatten wir neben der Studie in den Seniorenwohnheimen eine Long-Covid-Studie und eine Umfrage unter Hausärzten in Südtirol laufen. Ich schreibe gerade an einem Ethikantrag für ein Projekt in Zusammenarbeit mit dem Institut für Gesundheits- und Pflegewissenschaft der Charité, um die Auswirkungen auf die Palliativversorgung zu verstehen. Grundsätzlich ist zu sagen: Wie jede Katastrophe hat die Pandemie disruptiv auf das Gesundheitssystem eingewirkt und die Anzahl von Personen in Bedarf einer Gesundheitsleistung erhöht — bei gleichzeitiger Reduktion von Gesundheitsdiensten in sämtlichen Bereichen.

 

Versteckt sich das Gesundheitssystem mitunter hinter Covid-19?

So würde ich das nicht sagen, es hat ja niemand was davon, wenn wir plötzlich mehr Herztote oder zu spät erkannte Tumoren haben. Hinter der Reduktion von Gesundheitsleistungen steht sicherlich keine willkürliche Böswilligkeit, sondern vielmehr ein wenig krisenresilientes System, das durch Einsparungen, Privatisierungen und einem zunehmenden Schwächeln der Primärmedizin bereits im Vorfeld angeknackst war und dann mit Corona in den wenig erprobten Krisenmodus gerutscht ist: Durch die Bündelung der Ressourcen und die Infektionsschutzmaßnahmen kam es zu veränderten Versorgungsszenarien, erhöhten Humanressourcen-, Material- und Kommunikationsbedarf, darauf war es schlicht nicht vorbereitet. Die „Health System Resilience“, also die Widerstandsfähigkeit der Systeme, zeigte sich auch in als leistungsstark eingeschätzten Regionen suboptimal, siehe Lombardei. Welche Auswirkungen das auf welche Patientengruppe hatte und wie man Gesundheitssysteme resilienter gestalten kann, wird die Wissenschaft noch eine ganze Weile beschäftigen.

 

Chronische und degenerative Erkrankungen sind ein weiterer Schwerpunkt deiner Arbeit. Was findest du spannend an Themen wie Alzheimer und Demenz? 

Die erste Person mit Alzheimer habe ich als Sechzehnjährige in meiner Arbeit bei der Lebenshilfe Südtirol kennengelernt, und ich war fasziniert und schockiert, was diese Erkrankung aus einem bis dahin vollständig funktionsfähigen Menschen macht. Als ich damals recherchiert habe, habe ich herausgefunden, dass die Wissenschaft noch immer zum Großteil im Dunkeln tappt. Ich fand das bemerkenswert und ziemlich blöd, in meiner jugendlichen Naivität war ich überzeugt, die Wissenschaftler*innen müssen da was Offensichtliches übersehen. Ich habe später zu diesem Thema am Uniklinikum München promoviert — und habe jetzt noch mehr Fragen als vorher. 

 

Welche Fragen beschäftigen dich besonders?

Nicht nur im Bereich der Grundlagenforschung, also was Etymologie, Epiphänomene und zelluläre Mechanismen angeht, sondern inzwischen vor allem im Bereich der Versorgungsforschung und palliativen Begleitung: Wie man nach der Diagnose den Betroffenen möglichst lange ein würdevolles und gutes Leben ermöglicht, wie man Angehörige gut begleitet – denn eine Demenz ist ein schmerzlicher Abschied auf Raten, der das ganze Familiensystem betrifft – und wie es uns als Gesellschaft gelingen kann, demenzfreundlich zu werden und diese bemerkenswerte Krankheit als menschliche Realität und nicht als zuhause zu versteckende Pathologie zu akzeptieren.

 

Du schreibst, du mischst dich ein, du gehst nach vorne: Was treibt dich an?

Die Überzeugung, dass Menschlichkeit unser intelligentester Selektionsvorteil ist, von dem wir alle letztlich profitieren. Ich würde das deswegen nicht als „einmischen“ bezeichnen: Es ist ja auch meine Gesellschaft, meine Lebenszeit und mein Lebensraum. Soziale Ungerechtigkeiten, Versorgungsprobleme, Frauenfeindlichkeit, der Umgang mit Krankheit oder Tod usw. fallen daher direkt oder indirekt auch auf mich zurück. Für uns alle bleibt das Leben unvorhersehbar und mit Krankheit, Alter, Armut oder plötzlichen Schicksalsschlägen wird man Menschen brauchen, die für einen da sind. Mein kategorischer Imperativ ist so zu sein, wie ich selbst jemanden gerne an meiner Seite hätte, wenn ich Unterstützung bräuchte. Und bis dahin greife ich diese Themen in meiner Forschung und meinen Artikeln auf, da sitzt mir Käthe Kollwitz mit ihrem Sager „Jede Gabe ist eine Aufgabe“ im Nacken und ich denke mir immer: Ich muss mir das jetzt anschauen, ich muss das jetzt thematisieren — weil die Marginalisierten und direkt Betroffenen können es selbst oft nicht und sonst tut es vielleicht keine*r.

 

Anmeldung zum Südstern Health & Science Forum: https://www.planetmedizin.com/anmeldung/

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