"Von klein auf stand ich in Südtirol zwei Kulturen gegenüber"

Dienstag, 16.06.2015

Während meiner mittlerweile 15 Jahre im Ausland habe ich unzählige neue Kontakte geknüpft und mein persönliches Netzwerk erweitert. Im privaten Umfeld,  im sportlichen Umfeld und ganz besonders im beruflichen Umfeld habe ich festgestellt, dass eine persönliche Verbindung eine wertvolle Grundlage für eine gute Zusammenarbeit ist. 


Diese persönliche Verbindung herzustellen gelingt aus meiner Sicht immer dann besonders gut, wenn man einerseits dazu bereit ist, sich zu öffnen und etwas von seiner eigenen Identität preiszugeben, und  wenn man andererseits auch auf das Gegenüber eingeht und sich in dessen Sichtweise hinein versetzen kann. 

Im hektischen Manageralltag habe ich oftmals nur wenige Minuten Zeit, diese persönliche Beziehung herzustellen, etwa im Vorfeld oder am Rande eines Meetings, bei einem Businesslunch oder in einem Bewerbungsgespräch für einen neuen MitarbeiterIn für mein Team. In diesen wenigen Minuten stellt sich heraus, ob ich und mein Gegenüber gemeinsame Anknüpfungspunkte finden, die uns in eine persönliche Beziehung bringen und die als Basis für eine spätere erfolgreiche Zusammenarbeit dienen.

Wenn es darum geht, etwas über meine eigene Identität preis zu geben, bringe ich meist zwei Elemente ins Spiel: meine Erfahrung im Spitzensport als erfolgreiche Handballerin und meine Südtiroler Herkunft. Beide Themen bieten so viele Anknüpfungspunkte, dass jeder Gesprächspartner etwas findet, das er aufgreifen und weiter ausführen kann. Südtirol als Schlagwort zu nennen, mit seinen vielen Facetten als beliebter Ferienort, mit seinem Weltkulturerbe, als kulinarische Hochburg, als Grenzregion mit zwei Kulturen und mit seiner Autonomie, ist meisten ausreichend, und das Gespräch entwickelt sich von selbst.

Ähnliches gilt, wenn es darum geht, sich in die Sichtweise des Gesprächspartners hineinzuversetzen und dessen Beweggründe zu verstehen. Auch in diesem Fall, so behaupte ich, kommt mir meine Südtiroler Herkunft zu Gute. Von klein auf stand ich in Südtirol zwei Kulturen gegenüber und hatte die Chance, unbewusst und ohne grosse Anstrengungen zu lernen, dass beide Kulturkreise ihre Eigenheit und ihre eigenen Regeln haben. Ich hatte das Glück, in einem zweisprachigen Umfeld aufzuwachsen, mit Verwandten und Familienfreunden aus beiden Kulturkreisen. Ich erinnere mich an unzählige Beispiele, die ich als Kind beobachten konnte, und die ich lernte, der einen oder der anderen Kultur zuzuordnen. Heute hilft mir dies, mich schnell auf meinen (neuen) Gesprächspartner einzustellen und dessen Argumentation und Sichtweise in den Gesamtkontext seiner Kultur und Backgrounds einzuordnen.  Dadurch kann ich nicht nur fachlich argumentieren, sondern auch sicherstellen, dass sich die Gesprächsteilnehmer auf der persönlichen Ebene wohlfühlen. Dies fördert ein positives Gesprächsklima und  unterstützt den Ausgang des Gesprächs. 

Im Wirtschaftumfeld spricht man in diesem Zusammenhang von Empathie, eine Fähigkeit, die heute von jedem Manager verlangt wird. 10‘000 Stunden, sagt Malcolm Gladwell in seinem Bestseller „The Outliers“, sollte man trainieren, bis man in einer Tätigkeit erfolgreich ist. Als Südtirolerin hatte ich das Glück, diese 10.000 Trainingsstunden bereits von klein auf zu absolvieren. Ob es wirklich 10‘000 Stunden sind, habe ich nicht nachgezählt; geholfen hat es allemal.

Claudia Martello (35) ist seit 2012 Head of Product Management bei Swisscard AECS in Horgen, dem führenden Kreditkartenherausgeber der Schweiz. Die Boznerin hat an der WU Wien studiert und an der Mailänder Bocconi Universität einen Master absolviert und war anschliessend in Mailand und Wien als Unternehmensberaterin tätig, bevor sie 2007 als Senior Manager Prepaid beim Schweizer Telekommunikationsanbieter Sunrise einstieg.


Beitrag Nr. 6 aus der Reihe "Identität"

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