"Ich verbinde mit Heimat keinen tiefer gehenden ideologischen Konnex."

Freitag, 18.03.2016

Max Haller ist Universitätsprofessor für Soziologie in Graz und befasst sich in seiner Forschung unter anderem mit Sozialstrukturen, Wertorientierungen und sozialer Ungleichheit und Mobilität. Im Südstern Interview spricht der gebürtige Telfeser über gesellschaftliche Ungerechtigkeit in Entwicklungsländern, Meritokratie in Europa und seine Definition von Heimat.


Kürzlich haben Vertreter der führenden Industrienationen in New York beschlossen, bis 2030 den Hunger auf der Welt beenden zu wollen: Ein Ziel, das über Jahrzehnte immer wieder verschoben wurde. Können Sie persönlich diesen Plänen noch Glauben schenken?

Das Ziel ist ohne Zweifel sehr ambitioniert und nicht wirklich zu erreichen. Man kann darüber streiten, ob es sinnvoll ist, solch große Ziele aufzustellen oder ob es nicht besser wäre, einigermaßen realistische Ziele zu formulieren. Tatsächlich leidet die Glaubwürdigkeit von Institutionen, wenn sie immer wieder solche unerreichbaren Ziele aufstellen: Die Europäische Union ist dafür auch ein Beispiel. Ich wäre dafür, generelle Ziele - wie die Beseitigung des Hungers - als langfristige Ziele durchaus zu formulieren, dann aber auch konkrete und nicht unrealistische Teilziele für überschaubare Zeiträume aufzustellen.



Der Gini-Index ist ein statistisches Maß, das Ungleichverteilungen ausdrückt: Wie wird dieser Koeffizient berechnet?

Das sollten Sie eher in einem statistischen Buch nachlesen. Aber kurz und für Nichtfachleute kann man sagen: Der Index variiert zwischen 0 und 1 (manchmal schreibt man auch 0 und 100) und gibt an, wie viel vom gesamten Einkommen eines Landes auf verschiedene Einkommensgruppen bzw. Personen entfallen; bei 0 haben alle dasselbe Einkommen, bei 1 hat eine Person das gesamte Einkommen.
Seine Berechnung beruht auf der Lorenzkurve, die grafisch (flächenmäßig) angibt, wie stark die Gleichverteilung von der faktischen Verteilung abweicht.



Welche Schlüsse ziehen Sie aus dem Vergleich verschiedener Entwicklungs-und entwickelten Ländern?

Ursachen für die Ungleichheit sind unterschiedliche Ressourcenausstattung, das Bildungsniveau der Bevölkerung, die Stellung von Institutionen (eine gute Regierung, wenig Korruption), ungleiche Handelsbeziehungen.



Warum ist die gesellschaftliche Ungerechtigkeit besonders in Entwicklungsländern so groß?


Das gilt nur im Großen und Ganzen. Es gibt auch Entwicklungsländer, wie zum Beispiel Äthiopien, Tansania, Mongolei, ja sogar Indien, die eine relativ geringe Ungleichheit aufweisen. Hauptursache für Ungleichheit im globalen Süden: Geschichte und Folgen der Sklaverei; Kluft zwischen modernen und traditionellen Arbeitsweisen, denn ein Großteil der einheimischen Bevölkerung lebt in Subsistenzformen mit einfachen Technologien; korrupte Eliten und Regierungen, die externe Einnahmen, beispielsweise durch Rohstoffe und Entwicklungshilfe, großteils für sich abzweigen; geringe Bildung der Bevölkerung; hohe Fruchtbarkeit, die Familien verarmen lässt.

Ich habe zu dieser Frage soeben ein umfangreiches Buch veröffentlicht:
Max Haller unter Mitarbeit von Anja Eder, Ethnic Stratification and Economic Inequality around the World. The End of Exclusion and Exploitation? Ashgate Verlag, Farnham, England.



Thomas Piketty hat seit Veröffentlichung seines Werkes “Das Kapital im 21. Jahrhundert” viel Lob, aber auch Kritik geerntet: Was ist Ihre persönliche Meinung dazu?


Das Buch ist sehr interessant und wichtig, weil es klar zeigt, dass heute die ökonomische Ungleichheit der Vermögensverteilung wieder stark zunimmt. Es ist auch deshalb sehr gut, weil der Autor auch sozialwissenschaftliche und sogar literarische Quellen heranzieht, um zu zeigen und zu erklären, wie Reichtum zustande kommt. Nicht haltbar ist jedoch die These, dass es ein allgemeines Gesetz einer systembedingten wachsenden Ungleichheit im Kapitalismus gibt. Das Buch ist mit über einer Million verkauften Exemplaren ein wahrer Kassenschlager: Allerdings bin ich ziemlich sicher, dass nahezu 90 % der Käufer das Buch gar nicht gelesen haben.



Kann man den Ursprung und die Auswirkungen sozialer Ungerechtigkeit in einer “Weltformel” zusammenfassen, oder sind die Hintergründe zu länder-bzw. kulturspezifisch?

Nein, es gibt keine Weltformel (siehe auch meine Antwort zu Frage 5). Soziale Ungerechtigkeit darf auch nicht mit sozialer Ungleichheit verwechselt werden. Es gibt Länder mit hoher Ungleichheit, in denen die Mehrheit der Bevölkerung diese als notwendig, ja nützlich betrachtet, etwa, damit alle zu hohen Leistungen angespornt werden und die Wirtschaft wächst: Die USA sind dafür das beste Beispiel.
Allerdings ist "kulturspezifisch" auch zu eng; Faktoren, die zu geringer Ungleichheit und ev. auch Ungerechtigkeit führen, sind vor allem politisch: Demokratie und Föderalismus (in multinationalen Staaten); der Wohlfahrtsstaat, der umverteilt.



Unsere Gesellschaft befindet sich auf dem Weg zur Wissensgesellschaft, die zu einer noch ungleicheren Verteilung von Wohlstand führen kann: Wie schätzen Sie diesen Trend ein und wo sehen Sie die Risiken für Kleinbetriebe und Arbeitnehmer?


Der Begriff "Wissensgesellschaft" ist ein denkbar vager Terminus; darunter verstehen viele ganz Verschiedenes. Nur weil sich Informationen und Informationstechnologien wandeln und wichtiger werden, entsteht noch nicht eine neue Gesellschaftsform. Natürlich gibt es auch in der Wissensgesellschaft weiterhin alte und neue Formen der Ungleichheit; Zugang zu und Beherrschung von Information und Wissen ist in hohem Maße von klassischen Faktoren der Ungleichheit - Bildung, soziale Herkunft, persönliche Eigenschaften (Gesundheit, Intelligenz, Zielstrebigkeit) - abhängig. Kleinbetriebe und Arbeitnehmer können von neuen Wissensformen und -technologien durchaus auch profitieren. Die Prognose am Beginn des Computerzeitalters lautete, nun würden Kleinbetriebe unter die Räder kommen, weil sie sich die - damals - riesigen und teuren Computer nicht leisten könnten; eingetreten ist das Gegenteil, da die Computer ungeheuer einfacher, schneller und billiger wurden.



Nicht nur in Schwellenländern, sondern auch in Europa werden zunehmend Rufe laut, dass der soziale Aufstieg innerhalb der Gesellschaft auch durch Bildung kaum noch zu schaffen ist. Trotzdem wird immer wieder der Eindruck erweckt, Europa sei (immer noch) meritokratisch: Wie passen diese Widersprüche zusammen?

 
Ich finde diese vor allem vom französischen Soziologen Pierre Bourdieu vertretene These vollkommen falsch. Bildung hat die Wirtschaft und Gesellschaft in den letzten 100 Jahren revolutioniert: Entwicklung der Wirtschaft, Emanzipation der Frauen, Demokratisierung der ganzen Gesellschaft usw. In jeder modernen Gesellschaft, so auch in Europa, gibt es sowohl meritokratische wie ungleichheitsreproduzierende Prozesse. Auch ist Europa intern sehr heterogen: Skandinavien ist sehr egalitär,  auch die mitteleuropäischen Staaten wie zum Beispiel Deutschland, Österreich, die Tschechische Republik und Ungarn, England und die meisten südeuropäischen Staaten dagegen deutlich inegalitärer.



Gehört dann auch der “amerikanische Traum” der Vergangenheit an?

Hier gilt das Gleiche wie bei Frage 8: Dieser Traum war Realität immer nur für wenige, aber diese wirken als Vorbilder ganz stark in die Öffentlichkeit. Selbst in Österreich sind bis zu einem Drittel der Reichsten durch eigene Arbeit reich geworden: Ich denke dabei an Herrn Mateschitz (Red Bull) oder Herrn Stronach (Magna), um nur einige wenige zu nennen. In den USA ist die Selbstständigkeit stärker etabliert als im stärker regulierten Europa. Allerdings sollte man bedenken, dass auch in den USA die große Mehrheit der Bevölkerung nur davon träumen kann.



Ob Bürger dagegen protestieren oder nicht, die steigenden Ausgaben im Gesundheitsbereich werden eine schrittweise Privatisierung und damit eine Zweiklassengesellschaft unumgänglich machen: Wie stellen Sie sich Europa im Jahre 2050 vor?

Ich denke nicht, dass das ein unumgänglicher Prozess ist. Ein Staat kann dafür sorgen, dass auch jene, die sich keine Privatversicherungen leisten können, eine gute Gesundheitsversorgung erhalten.


Wie werden diese Entwicklungen Ihrer Meinung nach Südtirol erfassen?


Südtirol wird es, nicht zuletzt durch die Zuwanderung, den Klimawandel und den damit verbundenen Rückgang der Skigebiete, und die alternde Bevölkerung, in Zukunft auch wirtschaftlich nicht mehr so leicht haben und mit ähnlichen sozialen Problemen kämpfen müssen, die sich überall stellen. Die ethnische Problematik - speziell der Konflikt „deutschsprachige vs. italienischsprachige Bevölkerung“ - wird an Bedeutung verlieren.



12.) Was bedeutet für Sie Heimat?


Ein Ort, wo ich mich "zu Hause" fühle, das heißt, wo ich länger lebe oder gelebt habe; mich einfach wohlfühle und gerne hin- oder wieder zurückkomme; Arbeit, Familie und Freunde habe bzw. hatte. Meiner persönlichen Erfahrung nach fühlt man sich besonders in  jenen Orten,  Landschaften und Städten "zu Hause", wo man seine Kindheit und Jugend verbrachte. Ich verbinde mit Heimat aber keinen tiefer gehenden ideologischen Konnex, etwa derart, "Heimat" sei etwas Einmaliges, Zuwanderern und anderen nicht Zugängliches, etwas was man durch Kleidung, Sprache (Dialekt) demonstrieren müsse. Ein solcher Heimatbegriff kann auch eine sozial ausgrenzende Funktion haben.


Interview: Alexander Walzl

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