„Überzeugung wird durch Vordenker gemacht, nicht durch Kommissionen und Gutachter.“

Mittwoch, 02.12.2015

Der Architekt und Städtebauer Christoph Kohl erklärt im Südstern Interview, warum Städte entkommerzialisiert werden sollten, Denkmalschutz zu einer Parallelwelt aus gestern und morgen führen kann und Südtirol einen eigenen Flughafen braucht.


Trotz der zunehmenden Verstädterung scheint in vielen Metropolen an den Bedürfnissen der dort lebenden Bürger vorbeigeplant zu werden: Woran liegt das?

Das liegt daran, dass – zugespitzt gesagt – die Stadt, eine der wohl wichtigsten zivilisatorischen Errungenschaften, zu sehr ökonomisch dominiert wird – und dabei in letzter Konsequenz ausgeweidet und filettiert wird.  Die Verwaltungen der Städte, die doch die Bürger vertreten sollen, können sich gegen dominante Einzelinteressen nicht mehr ernsthaft behaupten. Das Problem ist: Kaum ein Investor gibt einer Stadt etwas zurück. Die existierenden Städte werden schamlos ausgenützt. Der Stadt wird nur genommen. Es gibt de facto keine wertvollen, lebenswerten neuen Städte. Wenn wir „Stadt“ sagen, meinen wir immer eine „alte“ Stadt, mindestens aus dem beginnenden 20. Jahrhundert, meist aber älter, sehr viel älter.  Die gegenwärtige Stadt, die wir alle meinen, ist ein hochkomplexes Produkt, in dem sich nach und nach die Bürgerschaft verwirklicht hat, auch in ihren ökonomischen Interessen. Ihr verdanken wir das quirlige Neben- und Übereinander der Funktionen, die eine Stadt lebenswert machen. Die Städte, die vor hundert(en) Jahren gebaut wurden, sind in ihren Strukturen und ihrer Architektur immer noch lebenswert, ansehnlich und funktional - und die  städtebaulichen Errungenschaften der Moderne haben sie nicht besser gemacht, eher im Gegenteil. Mit den Mechanismen modernen Investments, das nur in geldwerter Effizienz und Abschreibungszyklen denken kann, aber nie in Kategorien von Großzügigkeit oder gar Schönheit, ist zukunftsfähige Stadt nicht zu machen. Die Idee von der Smart City, dem neuesten Schrei der Stadtplanung, wird daran nichts ändern.


Einkaufszentrum Vleuterweide, Niederlande

Auch am Berliner Alexanderplatz sollte ein Star-Architekt eine Hochhaus-Skyline verwirklichen: Wie soll der Alexanderplatz in Zukunft aussehen? Gibt es Alternativen zu den Design-Glastürmen, wie man Sie mittlerweile in jeder Metropole findet?

Ja, die gibt es, und diese Alternativen werden von einer Minderheit der Fachleute in Berlin auch unterstützt. Ob sie damit Erfolg haben werden, ist allerdings sehr fraglich, leider. Für den „Alexanderplatz“, so das Synonym für die historische Mitte des ursprünglichen Berlins, gibt es eine auf allen Ebenen dokumentierte  Parzellenstruktur, mit den ursprünglichen Straßen, Plätzen und Höfen. Der Ort ist historisch so belegt, dass es wahrlich keiner Neuerfindung als Downtown bedürfte. Nichts wäre einfacher, als die historische Mitte wieder aufzubauen. Aber dem stehen die genannten ökonomischen Interessen entgegen.

Um ein grundsätzliches Missverständnis zu klären: Städtebau und Architektur – diese nur auf die Wahrnehmung als Fassade reduziert – sind voneinander zu trennen. Ich bin nicht für den historisch getreuen Wiederaufbau von Fassaden, schon gar nicht in ihrer Gesamtheit. Das Geheimnis von Stadt liegt in ihrer Vielfältigkeit, ihrer „Körnigkeit“. Die Fassaden sind immer zeitgenössisch. Wenn wir heute beiläufig durch historische Straßen gehen, mit Gebäuden aus dem 12., 14., 16., 18., 19. und 20. Jahrhundert, fragt auch niemand, aus welcher Periode diese stammen. Und das wäre mit Stadtteilen, die auf historischer Parzellenstruktur gründen und um Architekturen des 21. Jahrhunderts bereichert würden, auch nicht anders. Leider aber entsprechen solche Gebäude nicht dem Investitionsinteresse des  ‚Zoning’ und werden deshalb nicht ernsthaft verfolgt. Das Ergebnis sind unansehnliche Straßenzüge nach modernistischer Manier – oder, ebenso schlimm, disneylandhaft historisierende Quartiere. Als Ausnahmebeispiel an dieser Stelle ein Hinweis auf den viel beachteten Wiederaufbau vom Dom Römer in Frankfurt. Mitbauen tu ich dort leider nicht. Immerhin habe ich eine Anerkennung für unseren Beitrag erhalten.    



Die Interessen und Bedürfnisse verschiedener Altersgruppen, die in Großstädten zusammenleben, könnten sich kaum stärker unterscheiden: Ist es die Aufgabe von Städteplanern, Menschen wieder auf die Straße zu bringen? Wie kann dies gelingen?

Ja, das ist eine wichtige Aufgabe. Dazu ist es nötig, die Stadt zu entkommerzialisieren, soll heißen, Stadt muss auch Spaß machen, ohne dass man sich diesen für 50 €  „erkauft“. Lassen Sie mich den neu errichteten Potsdamer Platz in Berlin als Beispiel nennen. Einige Male im Jahr, nämlich immer wenn Besuch kommt, werde ich genötigt, diese vermeintliche Sehenswürdigkeit besuchen. Einen Potsdamer Platz gibt es nicht wirklich. Ein solcher ist dem planenden Architekten ob der Ansprüche an ihn nicht gelungen. Es stehen dort das (ehemalige) Sony-Center und die (ehemalige) Daimler-City. Beide sind letztlich Malls, die über die Potsdamer Straße hinweg keine Gemeinsamkeit gefunden haben. Ein Flanieren dort gelingt schwerlich. Entweder man ist dort unglücklich, weil man keine 50 € hat, um sie auszugeben oder man wird unglücklich, weil man 50 € ausgegeben hat und am Ende nicht mehr weiß, wofür. Gehen Sie aber durchs tiefste Kreuzberg, kaufen sich bei dem Türken ihres Vertrauens eine Döner für zweieurofuffzich, höchstens, dann fühlen Sie, wie sich Stadt anfühlen muss. Übrigens lasse ich diesen Vergleich durchaus für die Bozner Lauben und, mit Einschränkungen, entlang der ‚walschen’ Lauben an der Freiheitsstraße auch gelten.


Obwohl auch in Berlin die Wohnungspreise weiter ansteigen, ist es anders als in München noch möglich relativ günstig zu wohnen: Warum herrscht dennoch Wohnungsnot in der deutschen Hauptstadt?


Die Wohnungsnot hat genau mit den relativ günstigen Mieten zu tun. Berlin ist im Vergleich eine günstige Stadt, weil sie im Grunde immer noch arm ist. Und historisch eine Mieterstadt – nur ca. 15 Prozent der Wohnungen sind im Eigentum der Bewohner. Zugleich ist Berlin mittlerweile die anziehendste Stadt Europas, mit einem großen Zustrom an Neubürgern. Für Wohnraum, der durch Umwandlung in Eigentum oder Neubau entsteht, können Investoren vor diesem Hintergrund relativ hohe Gewinnmargen realisieren. Die renovierten Stuckaltbau-Wohnungen und die neuen schicken Apartments werden zum überwiegenden Teil durch gutverdienende Zuzügler übernommen oder von gut situierten Ruheständlern aus aller Herren Länder. Übrigens gerne auch von Kapitalflüchtlingen aus den vermeintlich armen europäischen Ländern. Für die Berliner Normalverdiener ist dieser Wohnraum nicht zu bezahlen. Zugespitzt: Berlin ist heute komplett ausverkauft. Da der ehemalige Soziale Wohnungsbau Ende der 90er Jahre ersatzlos abgeschafft wurde, wurde kein nennenswerter bezahlbarer Mietwohnraum mehr errichtet. Und so unangenehm die Wahrheit in diesem Zusammenhang ist: Vor dem Hintergrund der faktischen Wohnungsnot birgt der enorme Zuzug von Flüchtlingen und Migranten  auch gehörigen Zündstoff für die Zukurzgekommenen unter den eingesessenen Berlinern.



Welche Projekte verfolgen Sie gerade in Berlin?

In Berlin selbst verfolge ich weniger Projekte, als Sie vielleicht vermuten. Ich hatte das Glück, meine berufliche Karriere 1990 mit vergleichsweise großen städtebaulichen Projekten einzuleiten. Seitdem bin ich im Grunde Städtebauer, weniger wohlklingend ‚Siedlungsplaner’ oder gar ‚Massenwohnungsbauer’ geblieben. Das hat mich zwischendurch auch bis nach China, Georgien und bis 2014 noch nach Russland geführt. Jedenfalls arbeite ich überwiegend international. Der allergrößte Teil meines Oeuvres indes steht in den Niederlanden. Nun, Flächen, auf denen man tatsächlich Städte-Bau machen kann, sind rar gesät, und man muss sich ziemlich herumtreiben, um an entsprechende Aufträge zu kommen. Aktuell berate ich zum Beispiel die Städte Duisburg und Krefeld bei ihren städtebaulichen Ambitionen: im Wettstreit der Städte um die Rekrutierung von Einkommenssteuerzahlern attraktive, lebenswerte Siedlungsräume zu kreieren, die durch ihren menschlichen Maßstab und hervorragende Mobilitätskonzepte zu überzeugen wissen. Solche Leitpläne sind ein wichtiges kommunalpolitisches Instrument geworden.

Christoph Kohl in der Citadel Broekpolder, Niederlande (Foto Jeroen Dietz)



Sie haben kürzlich mit Ihrem Projekt “Riverbank City” eine autarke Stadt in Russland geplant - Zukunftsmusik oder bald Realität?

Bis zur Einvernahme der Krim durch Russland war es gefühlte Realität. Seitdem ist es Zukunftsmusik, wobei dieses Wort viel zu positiv klingt. Die Konsequenzen des Hegemoniestrebens und der Sanktionen, des Nationalismus und der Abkehr vom Westen sind für die russische Bevölkerung, meiner Überzeugung nach, dramatisch und negativ. Russland ist in ein schwarzes Loch gefallen. Fünfundzwanzig Jahre nach der Perestroika war eine aufstrebende, von Ehrgeiz und großem Fleiß gekennzeichnete, junge Mittelschicht im Entstehen, die nach einer besseren Zukunft verlangte. Diese Menschen hatten neuen Wohnraum nach zeitgemäßen Standards und im menschlichen Maßstab, mit klarer Definition von öffentlichem und privatem Raum nötig, dringend nötig. Dieser Aufgabe hatte ich mich mit Inbrunst gewidmet. Kein Russe wagt heute mehr in solchen Visionen zu denken, nicht der Wohnungssuchende und auch nicht der Investor.

Der Begriff der ‚Autarken Stadt’ muss noch erläutert werden. Die Städte und Stadteile jenseits der Kerne der russischen Metropolen funktionieren nicht. Die typische Bebauung durch ‚Khrushchevkas’ (Plattenbautypen seit den 60ern) stürzen förmlich ein. Es gibt kaum Kanalisation, Fernwärme wird über undichte Überlandleitungen verheizt, etc. etc. Um funktionierende neue Großsiedlungen zu errichten, ist es also notwendig, sich von den existierenden Anbietern und „Netzen“ unabhängig zu machen, auch, weil eine Ver- und Entsorgung häufig nur mittels Korruption gewährleistet ist. Energie muss vor Ort gewonnen werden, die Abfälle sollten auf eigenem Grund und Boden entsorgt werden, der öffentliche Verkehr muss privat geregelt werden. Die Basisbildungseinrichtungen sind intramural, ein kritischer Teil an Arbeitsplätzen wird innerhalb des Städtchens - es hatte immerhin die Kapazität von Brixen – angeboten. Das hat nichts mit Gated Community zu tun. Im Gegenteil. All dies war bei der „Riverbank City“ (ist natürlich ein Codename) gewährleistet. Ich behaupte heute: Dieser Traum ist ausgeträumt.  



Der Denkmal- und Ortsbildschutz trägt in Südtirol wesentlich dazu bei, dass die bäuerliche Kulturlandschaft zukünftigen Generationen erhalten bleibt. Muss dabei immer das einheitliche Dorfbild im Vordergrund stehen? Wie kann der natürliche Konflikt zwischen Denkmal- und Umweltschutz gelöst werden?


Die von Menschenhand geschaffene einmalige Kulturlandschaft aus Natur und Bauwerken ist mit das höchste Gut Südtirols, das es in alle Ewigkeit zu bewahren gilt. Ich habe mit Freude die Gründung einer EOS Non-Food-Sparte registriert und seitdem selbst an einigen Veranstaltungen von alpitecture teilgenommen. Ich erachte es als Errungenschaft des Südtiroler Kultur-Managements, unter der Dachmarke Südtirol das Thema gute Architektur und wertvolle gebaute Umwelt als einen Teil der Marketing Strategie des Landes etabliert zu haben. Die Landschaftsbilder, die Stadt- und Dorfbilder, gilt es zu schützen. Über die Art des Schützens aber könnte man anderer Meinung sein, als es landläufig praktiziert wird.
Mit der Idee der modernen Denkmalpflege, die Alt und Neu in bewussten, ja geradezu aggressiven Kontrast stellt, konnte ich mich nie anfreunden. Ich würde nicht die Herangehensweise der Bildenden Kunst anwenden, ich würde mich vielmehr an der Aufführungstradition Klassischer Musik orientieren (das Regietheater verwende ich hier als Analogie lieber nicht, denn die Schauspielkunst liegt total im Argen). Es gibt ein Repertoire, es gibt Partituren, es gibt Interpreten, Arrangeure, Re-Mixer, ein Orchester und Solisten, und, den Dirigenten.
Ich würde nicht „das Bild“ im musealen Sinn schützen, demzufolge das Bild nur noch betrachtet, nicht aber angetastet und verändert werden darf. Das führt zu dieser Parallelwelt aus gestern und morgen. Das Heutige bleibt, weil es nicht von Gestern sein darf und zu kurzlebig geplant wird, als dass es jemals morgen noch Bestand haben könnte, medioker. Stellen Sie sich vor, unsere Ahnen hätten so gedacht und gehandelt. Der Reichtum und die Mannigfaltigkeit der  - irrtümlicherweise – sogenannten „gewachsenen“ Stadt-, Dorf-, Kulturlandschaften wären nie und nirgendwo entstanden. Diese Denkweise kann nur zu einem Nebeneinander und nie zu einem Miteinander führen.
Ich würde immer die Methodik in den Vordergrund stellen: Wie haben Menschen zusammen leben wollen? Dass es im alten Dorf und in der historischen Stadt geradezu erotisch aufgeladene räumliche Beziehungen geben darf, in der Neubauumgebung aber Beziehungslosigkeit rechtlich vorgeschrieben wird, ist eine gesellschaftspolitische und kulturelle dramatische Fehlentwicklung. Ich hoffte, man könnte solche Regeln regional außer Kraft setzen.



Kürzlich wurde die Diskussion um eine Zukunft des Bozner Flughafen wieder neu entfacht: Braucht Südtirol Ihrer Ansicht nach einen eigenen Flughafen? Welche Maßnahmen würden Südsternen die Heimfahrt am ehesten erleichtern?


Ein klares Ja zum eigenen Flughafen. Wenn Südtirol weiterhin seinen Wohlstand aus dem Tourismus generieren will, kann es die Notwendigkeit eines eigenen Flugplatzes nicht negieren. Wenn Südtirol (ich zitiere die SMG) zum „begehrtesten Lebensraum Europas werden“ will, dann muss es als Destination auch direkt identifiziert und erreichbar sein. Und sie muss auch wieder verlassen werden können, denn kaum einer wird sich hier wirklich niederlassen können, auf dieser „Insel“. Die Begehrlichkeit ist in Wirklichkeit ja nur für Kurz- und Kürzesturlauber zu befriedigen. Dass die in Südtirol ansässigen hochkarätigen und am Weltmarkt erfolgreichen Unternehmen auch hinaus müssen in die Welt, ist nur ein Nebeneffekt und dem einen oder anderen Südstern käme ein Wochenendtrip auch gelegen.

Ich bin nicht der Meinung, dass, um dieses Ziel zu erreichen, zwingend der Flughafen BZO ausgebaut werden müsste. Die Empfehlung von Fachleuten: Den Flugdienst exklusiv halten. Und keine Low Cost Carriers anpeilen. Die Billigflieger wären für die Destination Bozen kein Geschäftsmodell.  Und klassische Linien wie Lufthansa, Austrian, Swiss, KLM, setzen die Destinationen unter Druck mit Ihren Ansprüchen: Piste verlängern, Servicegebäude zur Verfügung stellen und dergleichen.
Die Chance liegt in einem durch Südtirol selbst angebotenen regelmäßigen Flugbetrieb "on demand" mit Tagesrandflügen zumindest nach Rom, FRA, VIE. Dazu kämen peu à peu die Wunschherkunftsorte der Besucher, die es zu erobern gilt: Paris, London, Skandinavien. Und, der Südtirol-Urlaub beginnt schon beim Einsteigen in die SüdtirolAir.



Welche Chancen und Herausforderungen birgt die Insellage Südtirols für Städteplaner?

Für einen Städtebauer wohl kaum. Aber für Dorfbauer – die sich nicht als Siedlungsbreirührer betätigen – schon. Der Zersiedelung muss mit aller Kraft und Kreativität entgegengewirkt werden. Wohnen-Leben-Arbeiten auf engstem Raum stelle ich mir als herausforderndes, sehr dankbares und wertvolles Thema im dicht besiedelten alpinen Kontext vor.


Haus G.A. | Voralpenland

Welche Themen sollte die Politik Ihrer Meinung nach in Zukunft stärker angehen?

Nach der erfolgten Emanzipation von Rom, dem Aufgeben von Österreich als Schutzmacht, dem Irrglauben, in der Europäischen Union einen neuen Sinngeber zu finden, und vor der Tatsache stehend, dass die Globalisierung mehr Risiken als Chancen in sich birgt, würde ich mich voll auf die Region konzentrieren.


Die Südtiroler Politik täte gut daran einen partizipativen Prozess einzuleiten, der zu einer eigenständigen Vision Südtirol 2050 führt. In anderen Worten: eine langfristig ausgelegte Vision als Fundament für wirtschafts- und gesellschaftspolitische Entscheidungen, die über kurzfristige Parteiprogramme hinausgehen und unsere hart erkämpfte Autonomie weiterentwickeln. Mehr Mitbestimmung und Eigenverantwortung werden zukünftig immer wichtiger und die echten Treiber für Weiterentwicklung und Innovation darstellen. In diesem Kontext wäre es anstrebenswert mit neuen Governancemodellen (Stichwort: Schweizer Kantonsmodell)  zu experimentieren und sich zu überlegen wo, worin und wodurch Südtirol heute oder morgen (noch) einzigartig(er) werden könnte. Dies nicht nur, um das Profil im globalen Wettbewerb zu schärfen, sondern auch um sich seiner weltweit einzigartigen Werte bewusst zu werden. Denkfabriken wie das GFS Global Forum Südtirol, in dem ich mich im Rahmen meiner Möglichkeiten einbringe, möchte ich an dieser Stelle als innovative Ideen- und Impulsgeber besonders hervorheben.

Die regionale Sicherheit Südtirols wird sich zu einem unbezahlbaren Gut gegenüber der globalen Unsicherheit entwickeln. Ich würde so tun, als ob das Land autark leben müsste. Ich würde Abstand nehmen von allen, scheinbar diktierten, globalen Vereinheitlichungstendenzen. Ich würde, und wenn es nur fiktiv ist, zu einer gefühlten Souveränität Südtirols raten.



Was sind das für Dinge, worüber Sie sich in Südtirol, „aufregen“ könnten?



Dass der Autoreisezug Berlin-Wannsee nach Bozen, den ich 25 Jahre lang benutzt habe, ersatzlos aus dem Fahrplan gestrichen wurde, weil die Deutsche Bahn nicht mehr in neue Waggons investieren will. Was ist das für ein Zeichen im Zeitalter intelligenter Mobilität? Ein Skandal ist das, und das war es schon davor, weil man in diesem Zug ohne Fahrzeug nicht mitfahren durfte. Vom Wannsee anreisend, ausgeschlafen in die Rittner-Bahn umsteigen, davon träum’ ich.

Mit großer Skepsis registriere ich, dass aktuell auch in Südtirol Politik wieder nach einem falsch verstandenen Demokratieverständnis gemacht wird. Politik und Entscheidungsprozesse sollen transparent sein, ja, die Bevölkerung muss gut über die Beweggründe von Entscheidungen, das „Für und Wider“ informiert sein, selbstverständlich. Das Volk soll über die Dinge, die es zu entscheiden gilt, mitdenken und mitreden können, und zwar so, dass eine weise Entscheidung durch die Regierenden herbeigeführt und getroffen werden kann. Überzeugung wird durch Vordenker gemacht, nicht durch Kommissionen und Gutachter. Mitunter auch gegen die Meinung der Mehrheit. Ansonsten verkommt die politische Landschaft vergleichbar zu der der Fernsehlandschaft. Da bekommen die Leute genau das, was sie bestellt haben. Das ist Television, aber eben keine Vision.

Als Städtebauer und Architekt verweise ich auf all die schönen, spektakulären, sensationellen, unverzichtbaren, nicht-weg-denkbaren baulichen Hinterlassenschaften unserer Vorfahren. Jene Bauten und Orte, die die Menschen suchen, besuchen, die für den Tourismus, auch den nach Südtirol, ausschlaggebend sind. Wie viele davon wären wohl entstanden, wenn man jedes Mal das ganze Volk gefragt hätte, ob es das braucht und wofür das gut sein soll ...


Vermissen Sie etwas aus Südtirol?

Das meiste. In der aktuellen Saison behelfe ich mir mit einer Keschtnpfanne, Maronen vom Türken, Original-Speck und Schüttelbrot (gibt’s beim Großhändler), Südtiroler Bergapfelsaft (gibt’s im KDW). Das Feuer hab ich selber.


"Keschtn" braten in Berlin

Christoph Kohl
Berlin, im November 2015




Interview: Alexander Walzl

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