Über den Tellerrand hinaus

Mittwoch, 11.01.2023
Wenn es um die Frage des Standorts geht, sind Südtiroler emotional – denn es geht damit automatisch um den Bezug zur Heimat. Viele lieben es, Erfahrungen im Ausland zu sammeln. Und viele spielen mit dem Gedanken, irgendwann wieder zurückzukehren. Wenn da nicht das liebe Geld wäre oder der attraktivere Job in einem anderen Land … Doris Salzburger, Gert Gremes und Erwin Hinteregger kennen das aus eigener Erfahrung. Im Gespräch diskutieren sie, ob der Standort an Bedeutung verloren hat, wie anziehend Südtirol heute ist und warum jeder die Chance nutzen sollte, einmal wegzugehen

 

 

Lange galt: Du musst an bestimmten Orten leben, wenn du bestimmte Jobs haben willst. Dann kam Corona und ganze Unternehmen wechselten plötzlich ins Homeoffice. Auch dieses Gespräch zwischen Bozen, Mailand und Bruneck führen wir per Video. Hat der physische Standort an Bedeutung verloren?

DORIS: Virtuelle Meetings als Form der Kommunikation gab es im Bankwesen schon vorher, aber sie wurden kaum beansprucht. Erst durch Corona haben wir wirklich begriffen, dass Videokonferenzen sehr hilfreich sein können, um Entscheidungen schneller zu treffen und umzusetzen. Es hat uns aber auch gezeigt, dass physische Meetings wichtig sind. Gemischte Modelle am Arbeitsplatz, die erlauben, einen Teil der Zeit im Büro zu arbeiten und den anderen zu Hause würde ich befürworten. Allein die Diskussionen zu diesem Thema zeigen, dass eine massive Veränderung im Gang ist. Ich hoffe, dass die Errungenschaften der Digitalisierung langfristig in unseren Alltag Eingang finden. 

GERT: Meine Firma habe ich vor mehr als 20 Jahren aufgebaut, indem ich in der Welt unterwegs war. Klar war es belastend, häufig im Flieger zu sitzen, aber zugleich auch spannend und bereichernd. Für mich sind Reisen und Unterwegssein die reine Freude. Das fehlt mir in dieser Zeit am meisten. Insofern kann ich sagen: Ich liebe es, zwischen vielen Standorten unterwegs zu sein. Was ich überhaupt nicht vermisse, sind meine Fahrten nach Bozen. Da verlierst du als Pusterer wegen einer kurzen Besprechung schnell einen halben Tag. Da setze ich jetzt lieber auf eine Videokonferenz. Wäre der Besprechungsort hingegen Los Angeles, würde ich morgen in den Flieger steigen. 

ERWIN: Ich bin zu Stoßzeiten früher die Hälfte des Jahres im Flieger gesessen. Das fehlt mir überhaupt nicht. Deshalb bin ich froh, dass sich viele Bereiche aus dem Arbeitsleben virtuell abwickeln lassen. 

DORIS: Das müssen wir uns unbedingt erhalten, weil es teilweise viel effizienter ist. Vor allem dann, wenn man mit Personen spricht, die man bereits persönlich getroffen hat und kennt.

ERWIN: Trotzdem brauchen wir das Physische. Wir sind mit unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von einem Tag auf den anderen ins Homeoffice gewechselt. Technisch war das kein Thema, weil wir bereits vorher die Systeme angepasst hatten. Aber diese Situation hat unser gewohntes Leben auf den Kopf gestellt und unsere Gewohnheiten so stark beeinflusst, dass man zum Teil verlernt hat, im Team zu arbeiten, und jetzt wieder lernen muss zu socializen. Es gilt, das Gute aus zwei Welten zusammenzuführen.

 

Die IDM kümmert sich als Wirtschaftsdienstleister um die Stärkung des Standorts Südtirol. Hat sich durch Corona die Sicht darauf verändert?

ERWIN: Bei der Stärkung des Standorts starten wir bei Südtirol selbst, indem wir uns fragen, was Südtirol differenziert und besonders macht. Was Südtirol ausmacht, ist vor allem das Physische. Südtirol ist nicht das Silicon Valley und wird es nie sein. Wir sind eine Bergregion mit einer gewaltigen Lebensqualität, eine Region, die sich selbst gerade wieder entdeckt. Die schöne Landschaft hat sich über all die Jahre nicht verändert. Das Land hingegen hat sich in vielen Bereichen weiterentwickelt. Die Südtiroler*innen sind Macher und als IDM wollen wir Impulsgeber sein. Und wir wollen vor allem auch in der aktuellen Krise helfen, gewisse Transformationen zu beschleunigen – von Nachhaltigkeit über Digitalisierung bis zur Premiumisierung Südtirols.

GERT: Es gibt Topunternehmen, die weltweit mitmischen, viele Hidden Champions, die sehr erfolgreich sind und die trotzdem kaum jemand kennt.

ERWIN: Nicht zu vergessen sind auch die 27.000 landwirtschaftlichen Betriebe, die mit ihren Produkten prägen. In den vergangenen Jahrzehnten hat sich die Qualität enorm entwickelt. Unsere kleine Region kann sich nachhaltig weiterentwickeln, wenn wir das Land auch international auf einer Premiumschiene nach vorn bringen und dadurch den Standort stärken. Wobei Standort ein sehr technischer Begriff ist. 

 

Was wäre die emotionale Beschreibung?

ERWIN: Emotional zeichnet sich Südtirol durch seine Menschen, sein Produkt und seine Qualität aus, die miteinander verbunden sind. Das Land selbst, die besondere Menschlichkeit und das einzigartige Produkt führen zusammen zu einer sehr hohen Qualität. Dabei spielen unsere Geschichte, Kultur, Traditionen und Geografie eine entscheidende Rolle, denn sie machen uns einzigartig. Als Wirtschaftsregion ist Südtirol grundsätzlich für drei bis vier Kernkompetenzen bekannt und eine kleine Marke im großen Teich der Welt, aber doch attraktiv und mit viel Potenzial. Corona wird sich nachhaltig auf die Arbeitswelt auswirken – auch in Südtirol. Wir beschäftigen uns deshalb intensiv mit dem Thema Workation – also der Kombination aus Arbeit und Urlaub. Dabei geht es darum, Menschen für ein paar Wochen oder Monate für den Standort zu begeistern, die dann hier arbeiten und nebenbei das Land genießen. Nicht nur digitale Nomaden, Blogger, Freelancer, sondern auch ganz traditionelle Arbeitnehmer, die seit Corona zum ersten Mal remote arbeiten können oder dürfen. Das wäre eine riesige Chance, qualifizierte Menschen ins Land zu holen, die nicht nur zur Wertschöpfung beitragen, sondern auch ihr Wissen ins Land bringen.

 

Also weg vom Image des reinen Urlaubslands Südtirol hin zu einem Ort, an dem ich arbeiten und gleichzeitig urlauben möchte?

ERWIN: Wir mussten in der Krise neue Gäste gewinnen, was auch gelungen ist. Nun wollen wir Kanäle schaffen, damit Südtiroler herkommen, die von hier aus, wenn auch nur eine Weile, für ein Unternehmen arbeiten, das irgendwo in der Welt sitzt. Und das gilt auch für Menschen aus anderen Ländern.

Im Bild: Erwin Hinteregger (©IDM)

 

Kluge Köpfe ins Land (zurück-)holen – das steht in Südtirol bei vielen Unternehmen seit Jahren auf der Agenda ganz oben. Warum gelingt es nicht in dem Ausmaß wie gewollt?

GERT: Der Hauptsitz meines Unternehmens war immer Bruneck. Das war damals nie ein Problem, im Übrigen auch die Mitarbeitersuche nicht, die heute ungleich schwieriger geworden ist. Teile unserer Module wurden in China produziert, die Logistik saß in Bozen und später Verona, aber das Herz war Bruneck. Wenn wir über den Standort Südtirol reden, dann höre ich heute immer heraus, dass es dabei um Gäste geht. Wir sollten uns aber auch schleunigst um die Bedürfnisse qualifizierter Arbeitskräfte kümmern, die sich vorstellen könnten, hier zu arbeiten. Ich kenne ein Paar, er Südtiroler, sie aus Asien, die haben es wirklich versucht, aber nicht geschafft. Die haben es hier nicht ausgehalten, weil es verflixt schwierig ist. Denn am Ende sind wir ein Dorf, und genau deshalb ist es manchmal schwierig, diese Leute langfristig für Südtirol zu begeistern. 

 

Wie könnte es gelingen? 

GERT: Es gibt im Land hochtechnologisierte Unternehmen mit großem Bedarf an spezialisierten Arbeitskräften. Hier unterstützend einzugreifen, ganz selbstverständlich hybride Modelle zu schaffen, das muss ein Ziel sein. Der Standort, an dem sich jemand befindet und arbeitet, muss unwichtiger werden. Das würde enorm helfen. Sind wir mal ehrlich: Für Südtiroler Industrien ist es viel attraktiver, Leute ins Land zu holen, die etwas vom Ausland gesehen haben. Viele von ihnen haben aber Partner, die aus einem anderen Land kommen. Es bräuchte also eine Art Begleitprogramm, um die Leute zu integrieren – auch ihre Partner. Wenn die Familie nicht ankommt, ist der Aufenthalt von kurzer Dauer. 

ERWIN: Es fängt schon bei flexiblen Arbeitszeiten an. Im internationalen Kontext müsste man sagen, es ist o. k., wenn jemand drei Monate vor Ort ist und dann eine Zeitlang dort, wo die Familie lebt. Oder, dass man sich die Zeit anders einteilen kann. Mit besonderen Arbeitsmodellen gewinne ich auch gute Leute. 

DORIS: Ich könnte mir vorstellen, irgendwann zurückzugehen. Aber die beruflichen und privaten Herausforderungen sind enorm. Mein Mann und ich arbeiten beide im Bankwesen. Den Job, den wir machen, gibt es in Südtirol gar nicht. Und dann ist da noch die Herkunft. William ist Sizilianer. Er verbringt gern ein paar Tage in Südtirol. Aber dann wird es ihm schnell zu eng …

ERWIN: Ich kenne das. Meine Frau kommt aus Südspanien, wo die Mentalität sehr ähnlich zu Sizilien ist. Multinationale Unternehmen machen es einfach für Manager und ihre Familien und nehmen ernst, ob der Partner happy ist. Das Land Südtirol kann dabei eine Hilfestellung geben, aber ich sehe auch die Unternehmen in der Pflicht. Ein riesiges Problem ist die Zweisprachigkeit hier im Land, obendrauf kommt noch der Dialekt, und es gibt keine englische Schule. Aus diesem Grund hat meine ältere Tochter ihren International Baccalaureate, also ihre Matura, nicht in Südtirol machen können. Wir bräuchten dringend eine internationale Schule in Südtirol. 

 

Trient hat eine, Südtirol nicht. Warum?

ERWIN: Es ist ein bisschen zur Südtiroler Mentalität geworden, dass die Öffentlichkeit alles institutionalisieren muss. In anderen Ländern ist es normal, dass Unternehmen eine Schule sponsoren. Vielleicht müsste man auch in diese Richtung denken. 

 

Was hat Südtirol, was andere nicht haben?

ERWIN: Eine enorme Lebensqualität. Seit ich wieder hier lebe, fühle ich mich gesünder als vor zehn Jahren. Die Landschaft, die soziale Struktur, das Familiäre, die Infrastrukturen und die gesamte Lebensqualität sind eine Qualität, das kann man nicht anders sagen. 

GERT: Die Landschaft kann auch ein Nachteil sein. Die Erreichbarkeit ist in der Peripherie eingeschränkt und macht es für Unternehmen nicht einfach. Was Südtirol neben der Lebensqualität besonders ausmacht, sind die Charaktereigenschaften der Menschen. Egal, wo du als Südtiroler hinkommst: du wirst als offen, freundlich und irgendwie cool angesehen. Das zeichnet uns aus – und wirkt sich auch auf die Arbeitswelt aus. 

ERWIN: Ich finde eines wichtig: Wenn wir davon sprechen, kluge Köpfe zurückzuholen, dann geht es nicht in erster Linie um die Frage, wie Topmanager für das Land begeistert werden können. 

 

Sondern?

ERWIN: Wir brauchen auch gute junge Leute. Wir müssen deshalb mit den Universitäten in einem Umkreis von 500 Kilometern Entfernung in Kontakt bleiben und rechtzeitig eine Bindung aufbauen. Ich kenne viele Leute, die seit 20 oder mehr Jahren im Ausland sind und alle, wirklich alle wollen zurück. Aber da ist nicht nur die Frage des Jobs, der vielleicht nicht ganz passt. Da bleibt auch noch der Faktor Geld. 

 

Wie wichtig ist Geld bei der Standortfrage?

DORIS: Nicht irrelevant.

ERWIN: Natürlich ist es wichtig für die Leute: Das Gehaltsniveau im Land, übrigens in ganz Italien, ist ungleich niedriger als im Ausland. Wer sich für Südtirol entscheidet, muss oft große Abstriche machen. Ich versuche immer wieder, Leute für einen Job hier zu motivieren, aber am Ende hält sie oft die Geldfrage davon ab. Wenn man älter wird, verändert sich das vielleicht ein Stück weit. Weil dann eben die anderen Vorteile überwiegen, die das Leben in Südtirol mit sich bringt. 

 

Doris, war Lebensqualität ein Treiber bei der Wahl deiner bisherigen Stationen?

DORIS: Wenn es um die Frage der Lebensqualität geht, muss ich beim aktuellen Standort anfangen. Nach Mailand zu gehen war eine durchdachte Entscheidung. Hier können mein Mann und ich in Jobs arbeiten, die uns erfüllen. Meine Arbeit erlaubt mir, einen Tag in Paris zu sein, am nächsten in London oder Frankfurt, mich mit Kollegen international auszutauschen. Es liegt aber auch halbwegs nahe an Südtirol. Ich kann meinem kleinen Sohn meine Heimat zeigen und meine Familie einfacher besuchen. Das ist mir sehr wichtig – ich möchte diese Bindung aufrechterhalten. 

 

Und bei früheren Standorten?

DORIS: Da wollte ich weg, um etwas anderes zu sehen. Die Uni-Wahl Wien war mehr ein Zufall. Nach Asien ging ich, weil ich für mich herausfinden wollte, wie es ist, in einer ganz anderen Welt zu leben. London lag – für die Arbeit in der Finanzwelt – nahe. Ich finde, jeder junge Mensch sollte die Möglichkeit haben, in die Welt hinauszugehen und neue Erfahrungen zu machen. Wir Südtiroler sind ein bisschen ein eigenes Volk, das sich sehr verbunden ist. Das sieht man auch im Ausland, wo Südtiroler sich gern treffen, was Südstern ja auch unterstützt. Aber Südtiroler wollen nicht nur mit ihresgleichen unterwegs sein, denn sie schätzen auch den Austausch mit Menschen aus anderen Ländern. Da schlagen zwei Herzen in einer Brust: das eine hängt an Südtirol, das andere will die Welt erkunden. 

 

Im Bild: Doris Salzburger 

 

Wie hat dich der Standort geprägt, Gert?

GERT: Über fünf Jahre lang war ich jeden Monat für eine Woche in Los Angeles. Die Sommer habe ich mit meiner Frau und unseren beiden Buben ganz in Santa Monica verbracht. Das war cool. Der Kleinere war damals sieben Jahre alt und hat schnell gut Englisch gesprochen. An diese Zeit denke ich gern zurück. Freunde haben mich damals oft gefragt: Wo wäre es toll zu leben? Es gibt viele schöne Orte, interessante Länder, aber mir schien immer: So richtig daheim fühlt man sich nur dort, wo man herkommt. Dieses Gefühl ist bei Südtirolern vielleicht noch stärker ausgeprägt als bei anderen. 

 

Warum ist das so?

GERT: Das hat mit der besonderen Landschaft zu tun. Und mit der Frage der Zugehörigkeit. Als ich als Präsident des Fotovoltaikverbands und in der Confindustria unterwegs war, habe ich mich nicht wirklich integriert gefühlt. Für die Römer war ich kein Italiener, für die Vertreter aus anderen Ländern irgendwie schon, aber doch anders. Die Identifikation ist ein Problem. Ich glaube, deshalb bleiben wir so stark mit unserem Land verbunden, selbst wenn wir weggehen. 

ERWIN: Ich habe lange mit meiner Identität gekämpft und mir immer gesagt: Ich bin Italiener. In Wirklichkeit bin ich ein Südtiroler Italiener. Heute weiß ich, dass uns der kulturelle Hintergrund, das Grenzüberschreitende, einzigartig macht. Vor einiger Zeit habe ich einen Vortrag des Nachhaltigkeitsgurus Michael Braungart gehört. Er sagte, Grenzregionen seien ein fruchtbarer Boden für Innovation. In diesen Zonen passiere viel, man müsse es nur zu nutzen wissen. Südtirol hat es geschafft, in einem Staat gut zu gedeihen, der sich in den anderen Regionen nur sehr mühsam entwickelt. Wir müssen es als Vorteil sehen, in einer Grenzregion zu leben. 

 

Was hast du von deinen Erfahrungen an unterschiedlichen Standorten mitgenommen?

ERWIN: Erfahrungen im Ausland zu machen ist enorm wertvoll – einmal in beruflicher Hinsicht, aber vor allem für die Familie und einen selbst. Ich habe lange in Barcelona und Montreal gearbeitet. Diese Regionen haben eine multikulturelle Challenge zu bestreiten, genau wie wir in Südtirol. Aber beide Städte sind in den vergangenen Jahren stehengeblieben und haben sich nicht weiterentwickelt. Die politischen Probleme der letzten Zeit haben etwa in Katalonien dazu geführt, dass große Unternehmen wegziehen. Familien sind gespalten. Das ist für mich eine riesige Lehre – es ist sehr wichtig, dass wir in Südtirol das soziale und kulturelle Gleichgewicht halten. 

 

Manchmal scheint es, wir Südtiroler halten uns für den Nabel der Welt. 

ERWIN: Wir geraten sehr oft aneinander. Unterschiedliche Interessensgruppen stellen sich gegeneinander. Kritik ist gut, aber wir müssen lernen, das große Ganze zu sehen und über den Tellerrand hinauszublicken. Wenn du in den USA lebst, kannst du dein Kind nicht guten Gewissens in eine öffentliche Schule schicken, weil das reichste Land der Welt nicht in gute Schulen investiert. Sozialgesellschaftliche politische Themen müssen mehr ins Bewusstsein rücken. Wir sollten nicht alles als gegeben hinnehmen. 

 

Die IDM hat sich zum Ziel gesetzt, Südtirol zum begehrtesten nachhaltigen Lebensraum zu machen. Was geht dir durch den Kopf, wenn du das hörst, Gert?

GERT: Das formulierte Ziel ist ja nicht schlecht. Ich frage mich nur, wer die Zielgruppe ist. Je weiter oben wir sind, umso tiefer können wir fallen. Wir befinden uns auf einem hohen Level. Sollte das Ziel sein, mehr Gäste zu erreichen, bin ich nicht damit einverstanden. Wir müssen die jungen Menschen im Land mehr einbinden. Für sie ist bereits alles, was sie jetzt haben, Gewohnheit und oft nichts mehr wert. Das muss sich ändern. 

 

Muss man weggehen, um zurückkommen zu können?

GERT: Abstand bringt immer Vorteile. Ich hatte in meinem Job oft stressige Zeiten. Immer, wenn ich wieder zurückgekommen bin, war es nur noch halb so wild. 

ERWIN: Mir gefällt die Aussage, Herkunft in die Zukunft zu bringen. Die Zielgruppe sind übrigens wir Südtiroler selbst. Wir werden diesen begehrten Lebensraum nachhaltig weiterentwickeln, um zukunftsfähig zu bleiben. Damit ein Bauer sein Höfl in Terenten oben auf dem Berg auch in der nächsten Generation weiter bewirtschaften kann. Wir brauchen nicht viel mehr Gäste in Südtirol, wir brauchen auch nicht viel mehr Äpfel. Wir haben gar nicht Platz für mehr Milch, Industrie und Hotels. Wir brauchen mehr Qualität, die nachhaltig ist. 

DORIS: Bei vielen Südsternen, die schon länger im Ausland sind, hat sich ein Südtirol-Bild verfestigt, das aus der Zeit stammt, als sie das Land verlassen haben. In Kaltern ist man in meiner Jugend mit Englisch nicht sehr weit gekommen. Nun haben mich Freunde aus Asien besucht und sie hatten überhaupt keine Probleme sich zu verständigen. Ich finde es erfreulich, dass Südtirol auf Qualität setzt. Ein Grund mehr, irgendwann zurückzukommen. 

GERT: Südtirol ist eben mehr als Tourismus und Äpfel, Speckbrettl und Berge. Diese Botschaft müssen wir verstärkt nach vorn bringen. Als ich damals nach L.A. ging, wollte ich auf einer Broschüre das Südtirol-Logo integrieren. Das durfte ich nicht, weil es nur für bestimmte Produkte reserviert war. 

ERWIN: Die Marke Südtirol ist sehr viel wert. Jemand muss sich verdienen, sie zu benutzen, denn sonst verwässert sie auch schnell. Aber ich bin ganz bei dir, Gert, dass wir sie nicht nur auf Tourismus und Landwirtschaft beschränken können, sondern auch bewerten sollten, welche anderen typischen Produkte dafür infrage kämen, weil sie Südtirol authentisch mittragen. Und die Weiterentwicklung der Marke ist ein strategisches Projekt, an dem wir mit Hirn und Herz arbeiten.

GERT: Die ganze Hightech-Industrie im Land, die den besten Firmen weltweit Lösungen anbietet, wird oft vergessen. Das Wissen um dieses Know-how muss mehr in die Köpfe hinein. Damit Südtirol endlich als das wahrgenommen wird, was es ist: ein Standort, der weltweit mithalten kann. 

 

Im Bild: Gert Gremes (©Andergassen)

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