Er weiß: Die Zukunft ist jetzt

Donnerstag, 18.04.2024
Der Mensch lebt viel in der Zukunft, doch wirklich damit umzugehen lernen die wenigsten. Roland Benedikter, Inhaber des UNESCO-Lehrstuhls für Zukunftsbildung an der Eurac, beschäftigt sich in seiner Arbeit mit dem, was kommen wird – aber im Grunde genommen schon jetzt da ist. Wir haben den Soziologen und Politikwissenschaftler gefragt, wie aktuelle Ereignisse wie Krieg oder Klimawandel unser Zukunftsbild prägen und warum vor allem junge Menschen Kompetenzen brauchen, um ihr zu begegnen.

 

 

Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft: In welcher Zeit halten wir uns am meisten auf?

Am meisten in der Zukunft, weil wir die Gegenwart dauernd vorausplanen. Wir versuchen, uns auf etwas einzustellen und uns und unsere Familien abzusichern, aber auch, etwas zu erreichen. Das macht uns menschlich. Deshalb ist die Gegenwart bei jedem Menschen eigentlich immer der Zukunft gewidmet. 

 

Verändert es sich im Lauf des Lebens, wie viel wir in der Zukunft leben?

Das entwickelt sich mit der Biografie des Menschen. Sehr junge Menschen leben viel in der Gegenwart, Menschen im aktiven Tätigkeitsalter hingegen sehr stark in der Zukunft. Und Menschen, die ein Alter erreicht haben, in dem sie auf Erreichtes zurückschauen können, leben immer stärker in der Vergangenheit. Das passiert aber erst dann, wenn ihr Leben in vielen Punkten schon geregelt ist. Die einzigen, die in unserer freien, kapitalistischen Gesellschaft am ehesten wirklich in der Gegenwart leben, sind also die sehr jungen Menschen. Und Menschen, die im mittleren Lebensalter sind, leben wahrscheinlich zu viel in der Zukunft und kümmern sich eigentlich auch zu wenig um die Vergangenheit. 

 

Hat dein Interesse für das Thema Zukunft mit deinem Hintergrund zu tun? 

Ja. Mein Großvater las die Tageszeitung jeden Tag penibel vom ersten bis zum letzten Buchstaben. Vor allem die internationalen Nachrichten haben ihn interessiert, obwohl er Land- und Gastwirt war, der selten aus seiner Umgebung, seinem Dorf und Tal hinauskam. Das hat mich geprägt. Denn ich habe als Kind gemerkt, dass es irgendwo eine Welt gibt, die unsere beeinflusst, die aber nicht direkt sichtbar ist. Und ich habe erlebt, dass zweitens viel Interessantes entsteht, wenn mein Großvater den Menschen in der Stube davon erzählte, von den größeren Zusammenhängen. Dass also Geschichtenerzählen über die Welt da draußen hier und jetzt ein Wert an sich ist, dass es in der bekannten Welt Interessantes bewirken kann, Dinge in Bewegung bringt und auch Freude an der Einsicht erzeugt. 

 

Das hat sich später in deiner Studienzeit wiederholt.

Ja, ein zweiter wichtiger Moment in meiner Biografie war meine Zeit in Berlin, als die Mauer gefallen ist. Ich war damals Stipendiat des österreichischen Forschungsministeriums und habe den ganzen Umsturz direkt miterlebt. Das war eine historische Wende, in der sich alle Parameter geändert haben – auch das Verhältnis zur Zukunft. Vorher hatte man in Europa eine klare Struktur: Auf der einen Seite den Kommunismus, auf der anderen den Westen und seine freie Gesellschaft. Mit dem Zusammenbruch des Systems lernte ich mit 25 Jahren, was eigentlich Zukunft ist und was Veränderung bedeutet. Und vor allem: Wie schnell die Zukunft in die Gegenwart einbrechen kann. 

 

Südtirol hat nun an der Eurac einen UNESCO-Lehrstuhl für Antizipation und Transformation, der sich um Zukunftsbildung kümmert. Was können wir uns unter dem Begriff überhaupt vorstellen?

Zukunftsbildung heißt, dass wir uns mit der eigenen Fähigkeit auseinandersetzen, mit der Zukunft umzugehen und sie zu verstehen. Dabei gehen wir davon aus, dass jeder Mensch, so wie er lesen und schreiben erlernt, lernen kann, besser mit Zukunft umzugehen – sozusagen die Hochsprache der Zukunft zu sprechen. Das ist deshalb so wichtig, weil Zukunft durch die technologische Veränderung, die Interkonnektivität, das tägliche Leben in immer schnelleren Zukünften so wichtig geworden, aber auch herausfordernd ist. Unseren heutigen Zustand nennt man in der Fachsprache Gegenwartsschrumpfung, ein Symptom unserer Zeit, das viele desorientiert.

 

In den Köpfen der Menschen besteht im Grunde genommen nur eine Zukunft, der Duden sagt, es gibt die Mehrzahl des Wortes gar nicht. Warum müssen wir doch von Zukünften sprechen?

Weil es zu jedem Zeitpunkt mehrere Zukünfte zugleich gibt. Diese haben ganz unterschiedliche Geschwindigkeiten, unterschiedliche Verfahrensweisen, sie beziehen sich auf unterschiedliche Menschengruppen. Es handelt sich um eine Vielheit von oft widersprüchlichen Entwicklungen, die aber alle schon in der Wirklichkeit der Gegenwart einen Samen gelegt haben, der spürbar wird.

 

Für welche Gruppe ist die Zukunftsforschung besonders wichtig?

Vor allem die junge Generation will heute besser verstehen, was in unserer oft kompliziert anmutenden Zeit geschieht. Sie will lernen, damit systematisch umzugehen, damit sie nicht die Orientierung verliert. Das ist nichts Theoretisches, sondern ein Erkennen, Vorwegnehmen und Experimentieren mit dem, was schon passiert. Wer will ich sein, was tue ich, um wohin zu gehen? Diese Fragen stellt sich jeder Mensch, er plant also voraus, ob er will oder nicht. Die Jungen tun das vielleicht noch stärker als die Älteren, einfach, weil noch mehr offen ist. 

 

 

Migration, Klima, Pandemie, Kriege: Inwieweit tragen aktuelle Ereignisse dazu bei, wie wir unsere Zukunft sehen?

Der Mensch lebt in drei Körpern, in drei Kokons. Erstens in der nackten Tatsache seiner Existenz. Wir sind grundsätzlich dauernd mit einer einzigen großen Frage beschäftigt: der nach dem eigenen Tod. Diese Frage lebt in unserer DNA, unserem Sein selbst, sie ist unsere Naturexistenz, und sie bedingt unsere Realitätserfahrung, unsere Menschlichkeit und unsere Ethik. Deshalb schauen wir grundsätzlich immer voraus, wenn auch sehr viel unbewusst. Der zweite „Körper“ ist die eigene Psyche. Manche sehen die Zukunft eher ängstlich, andere positiv – das hängt mit der Erziehung und dem eigenen Charakter zusammen. Und als dritte Komponente spielt hinein: die Lebenssituation. Da spielen Ereignisse von außen, auch in Gestalt der Nachrichten in den Medien, heute eine große Rolle. Heute ist es durch die neuen Kommunikationsmittel, die dauernd die ganze Welt in Echtzeit vermitteln, so, dass Menschen ihre Ängste und Hoffnungen bezogen auf die Zukunft viel stärker als früher mit Weltereignissen verbinden. Nie also waren Weltereignisse wie Klimafrage oder Kriege so wichtig wie heute, wenn es um das Erleben von Zukunft geht. Das hat seine Vor- und Nachteile.

 

Gibt es einen Zukunftstrend, den du als besonders wichtig erachtest?

Wenn man von Zukunft spricht, gibt es sechs Dimensionen, auf die man schauen muss: Wirtschaft, Politik, Kultur, Religion, Demografie und Technologie. Erst sie alle zusammen ergeben die siebte Dimension, die wir eigentlich verstehen wollen und müssen: die bewegte Gesellschaft, die nie stillsteht. Also das Etwas, den Prozess, der aus Menschen besteht, aber oft auch Menschen auffrisst, um sich zu ernähren, also das, was wir in der Philosophie den „Leviathan“ der Gesellschaft nennen. Zwei der sechs Dimensionen stechen heute heraus und haben eine gewisse Führungsrolle: Demografie, also wie sich unsere Gesellschaft in Alterspyramide und Migration verändert. Und zweitens, als wahrscheinlich wichtigste Dimension: Technologie. 

 

Warum ist Technologie die wichtigste Dimension?

Künstliche Intelligenz in Form von Chatbots zum Beispiel wird unsere Gesellschaft in den kommenden Jahren so massiv und tiefgründig verändern, wie wir es auch aus den umbruchstärksten Zeiten nicht gewohnt sind. Die daraus resultierende Automatisierung wird den Verlust von bis zu 600 Millionen Arbeitsplätzen in den Demokratien bedeuten. Das wird unsere Gesellschaft zu einer Neuordnung zwingen, die auch Gutes haben kann. Es müssen in den kommenden Jahren Fragen verhandelt werden, wem die Profite der Maschinen gehören und wie die Realität dem Menschen überhaupt erscheint, wenn es zum Beispiel „augemented reality“ und „eingebettete Holographie“ im Alltag geben wird. Irgendwann wird es möglicherweise ähnlich viele künstliche Intelligenzen wie Menschen geben. Dann entsteht eine Welt, die sich von der aktuellen stark unterscheiden wird. Wir sind gut beraten, mit der Gestaltung dieser Welt zu beginnen, bevor sie sich realisiert. Dann haben wir es nämlich mit selbst in der Hand.

 

Große Krisen hat die Zukunftsforschung meist nicht vorausgesagt. Weil am Ende doch immer alles anders kommt als gedacht? 

Die Achillesferse der Zukunftswissenschaft liegt ganz einfach darin, dass sie versucht, über einen Gegenstand zu forschen, den es per Definition nicht gibt. Das Wesen der Zukunft ist, dass sie noch nicht existiert. Es gibt keine andere Wissenschaft, die als Gegenstand etwas hat, was nicht existiert. Das bewirkt, dass wir uns eigentlich immer mit Projektionen aus der Gegenwart beschäftigen – mit Vorstellungen vom Künftigen im Hier und Jetzt. Das heißt nicht, dass man mit der Zukunft nicht arbeiten kann. Man versucht vielmehr, über Untersuchungen der Vorstellungen über sie im Hier und Heute an ihren Kern heranzukommen, sie vorwegzunehmen. Damit kommen wir dann auch schon zur größten Stärke der Zukunftsforschung: Antizipation. Indem wir Dinge in unserer Vorstellung vorwegnehmen, erzeugen wir sie auch schon mit. 

 

Stichpunkt Antizipation: Was bedeutet die Zukunft für unsere Demokratie?

Ich würde im Moment zwei große Stränge sehen. Erstens sind heute viele verschiedene Zukunftsthemen gleichzeitig da, die alle unterschiedlich ausschauen und unterschiedlichen Gesetzmäßigkeiten folgen. Klima, Frauenfrage, Technologie und Gleichstellung, um nur vier zu nennen – sie beeinflussen sich gegenseitig in komplexen Weisen, was überfordern kann. In der Überforderung suchen die Menschen in ganz verständlicher und natürlicher Weise Vereinfachung, Komplexitätsreduktion, was an sich völlig richtig ist. Politisch kann sich das aber so auswirken, dass besonders einfache Parolen attraktiv scheinen. Sie vereinfachen manchmal manipulativ. Zu viel Vereinfachung ist für die Demokratie nicht gut. Die Antwort: Wir brauchen Hilfe für die Bürger bei der Navigation hochkomplexer Zukünfte, und das haben wir bislang sehr vernachlässigt. 

 

 


Und zweitens?

Die zweite Entwicklung sehe ich in der Technologie. Man kann ruhigen Gewissens sagen, dass künstliche Technologie in ihrem Wesenskern gegen die Demokratie arbeitet – solange, bis wir bewusst das Gegenteil aktivieren. Künstliche Intelligenz ist darauf ausgelegt, zu vereinfachen, indem sie Tausende Informationen in Millisekunden integriert. So viele Daten kann kein Mensch in ein Urteil integrieren – weshalb künstliche Intelligenz dazu tendiert, Prozesse zu verkürzen und Urteile aufgrund von immer mehr Daten, aber zunehmend ohne Menschen zu fällen. Wenn künstliche Intelligenz ausrechnet, dass 82 Prozent der Daten ein klares Urteil fällen und „ja“ sagen zu einer Entscheidung, dann braucht es im Grunde keinen Dialog mehr. Und das heißt letztlich, dass es keine Demokratie mehr braucht. Sie wird durch Daten ersetzt. Hier müssen wir sehr aufpassen, was durch die Datenrevolution in den kommenden Jahren mit unserer Demokratie geschieht. 

 

Ein zweites Problem ist die Realitätserfahrung der künstlichen Intelligenz.

Genau. Künstliche Intelligenz versteht die Realitätserfahrung des Menschen nicht. Der Mensch definiert sich nämlich durch die eigene Sterblichkeit – und daraus resultiert letztlich die Ethik. Jedenfalls war es über die gesamte Menschheitsgeschichte so. Heute aber bricht eine neue Ära an. Die künstliche Intelligenz will in ihrem ganzen Wesen letztlich die Zeit aufheben, indem sie in immer kleineren Nanosekunden immer mehr Information zusammenzieht. Sie will also gewissermaßen die Unendlichkeit im Jetzt. Weil das so ist, also weil es der künstlichen Intelligenz letztlich um Überwindung der Zeit geht, kann sie den Menschen nicht verstehen, weil dieser in der Zeit gegründet ist. Das wird zu Konflikten führen, wenn wir keine Brücken bauen – jetzt!

 

Welche Lösungsansätze dazu werden in der Zukunftsforschung diskutiert?

Es gibt im Wesentlichen zwei Ansätze. Einmal, dass sich der Mensch technologisch aufrüstet. Es ist der Weg eines Elon Musk, der sagt: Menschen müssen zu Cyborgs werden, sonst werden sie zu Haustieren der künstlichen Intelligenz. Es geht darum, Lebenszeit auszudehnen, Chips und andere Technologien direkt mit dem menschlichen Körper und Geist zu verschmelzen, um Fähigkeiten zu erweitern. Wir nennen diesen Trend „Transhumanismus“: den Menschen technischer machen, um über ihn hinauszugehen. Die andere Lösung ist der umgekehrte Weg: Wir lehren der künstlichen Intelligenz die Zeiterfahrung. Das würde bedeuten: Wir machen die künstliche Intelligenz sterblich. 

 

Du hast in deinem Beruf als Soziologe und Politikwissenschaftler, der sich für Zukünfte interessiert, mit Menschen aus den unterschiedlichsten Lebensrealitäten zu tun. Was nimmst du selbst mit im Austausch mit ihnen?

Je mehr ich mich mit fremden Zukünften anderer Menschen beschäftige, desto beeindruckender ist es. Zukunftsforschung passiert nicht im stillen Kämmerlein, sondern indem man miteinander redet. Wenn unterschiedliche Zukunftsbilder aufeinandertreffen, verändert sich das eigene Bild, auch wenn man es gar nicht will. Es wird notgedrungen größer, erhabener, tiefer. Meine Zukunftsvorstellungen sind mit der Zeit diverser geworden und lassen immer mehr zu. Ich kann mittlerweile fast alles anerkennen, weil alles seine eigene Wahrheit hat; und wenn die Dinge dann zusammenkommen, korrigieren sie sich gegenseitig. 

 

Du bist für deine Arbeit viel unterwegs. Mit welchem Blick schaust du auf Südtirol?

Der Effekt, wenn man viel weg ist, ist, dass man auch sich selbst wie von außen sieht, versteht, dass man von diesem Ort herkommt. Heute schaue ich mit großer Genugtuung, Wertschätzung und Dankbarkeit auf Südtirol. Ich merke, wie unglaublich viel Glück ich gehabt habe und habe, in so einem Land leben zu dürfen. Wenn man vergleicht, wie das Land vor 50 Jahren dastand, hat sich unheimlich viel entwickelt. Man kann guten Gewissens sagen, dass Südtirol heute in vielerlei Hinsicht ein Vorzeigemodell ist, in allen sechs Dimensionen. Und das trotz der Tatsache, dass wir immer weniger verschont werden von den Entwicklungen in der Welt. Auch Südtirol hat das Klimathema, Migration, die Technologierevolution. Auf der anderen Seite ist das Land, trotz aller Herausforderungen und natürlich auch Probleme, ein Beispiel des Gelingens. 

 

Wie begegnest du der Zukunft?

Mit Zuversicht. Die menschliche Grundeigenschaft ist die Hoffnung. Hoffnung ist etwas sehr Warmes und Biegsames, dem man nicht mechanisch begegnen kann. Deshalb braucht es das Spiel – man muss die Zukunft spielerisch sehen, als Fluss, in dem man sich wohlfühlt. Und dann kann Freude dabei entstehen. Um es in einem Satz zu sagen: Der Mensch ist dann ganz Mensch, wenn er eine schöne Sorge um die Zukunft hat. Wichtig ist, dass es im Kern und so lange wie möglich eine schöne Sorge ist.

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